Einer der häufigsten muskulären Befunde, den ich Tag ein Tag aus in der Praxis vorfinde, ist eine schwache Rumpftragemuskulatur. Eine schwache Rumpftragemuskulatur ist häufig der Übeltäter, wenn Blockaden in Hals- und Brustwirbelsäule bestehen und sich verspannte Brustmuskulatur in Gurtzwang äußert. Doch von vorn - wo ist dieser berühmt berüchtigte Rumpftragemuskel, wie erkenne ich, ob er schlecht ausgeprägt ist und wie kann ich ihn trainieren?
Beim Pferd gibt es kein Schlüsselbein. Der Rumpf hängt daher wie ein Schiffsbug in einer Muskelschlinge zwischen den Vorderbeinen. Er wird natürlich von vielen Muskeln getragen, die dabei alle zusammenarbeiten. Hauptrumpfträger ist jedoch der Musculus Serratus Ventralis - auf Deutsch: Gesägter Muskel. Dieser besteht aus zwei Anteilen und kommt von den Querfortsätzen der 4.-7. Halswirbeln und den ersten 8 bis 9 Rippen. Er setzt von innen an den oberen Bereich des Schulterblattes an. Ich habe ihn euch hier in einem Foto eingezeichnet:
Der M. Serratus Ventralis ist die stärkste myofasziale Verbindung zwischen Rumpf und Gliedmaße. Die Aufgabe dieses Muskels neben der Rumpftrage- und hebefunktion ist auch die Stabilisierung des Schulterblatts in allen Bewegungen. Zusätzlich ist dieser Muskel der "Hauptstoßdämpfer" der Vorhand.
Schwach ausgeprägte Rumpftragemuskulatur erkennen:
Woran erkenne ich einen schlecht ausgeprägten Rumpftragemuskel? Dies ist anhand einiger Exterieurmerkmale schon ganz leicht am Erscheinungsbild des Pferdes zu sehen. Dazu habe ich euch ein Pferd mit derzeit schwach ausgeprägter Rumpftragemuskulatur fotografiert. Was fällt euch optisch auf?
Der obere Rand des Schulterblattes steht optisch weit hevor und ist gut sichtbar. Bei Pferden mit gut trainierter Muskulatur liegt dieses eng an. Fehlt Rumpftragemuskulatur, "fällt" der Widerrist zwischen den beiden Schulterblättern ab und sie stehen als Stützpfeiler deutlich hervor.
Hinter dem Widerrist steigt die Rückenlinie deutlich an. Auch dies liegt daran, dass der Rumpf zwischen den Schulterblättern nach unten "fällt". Nicht selten wirken Pferde mit schwacher Rumpftragemuskulatur fälschlicher Weise hinten überbaut. Der Rücken erscheint schwach bemuskelt.
Das Vorderbein wirkt sehr kurz im Vergleich zum Hinterbein, das Pferd sieht optisch eher aus wie ein Dackel - langer Oberkörper und kurzes Bein. Der Rumpf hängt in der Hängematte der Brustmuskulatur und steht damit sehr tief, oft kommt das Brustbein vorn deutlich hervor. Durch die Überlastung der Brustmuskulatur, welche Oberarm und Brustbein verbindet und den Rumpf auffängt, sehen die Pferde von vorn betrachtet viel schmaler aus als sie eigentlich sind.
Das Pferd hat einen deutlichen "Unterhals". Das, was optisch so hervor kommt ist nicht deutlich ausgeprägte Muskulatur - sondern die nach unten durchgestreckte Halswirbelsäule. Meist ist bei diesen Pferden die Oberlinie im Hals optisch ebenfalls schwächer ausgeprägt.
Folgen schwach ausgeprägter Rumpftragemuskulatur:
Körperliche Folgen:
Die Wirbelsäule in Hals- und Brustbereich steht in der Streckung - es kommt schneller zu Blockaden oder Erkrankungen wie Kissing Spines.
Der Sattel rutscht aufgrund der Oberlinie gern nach vorn in die Schulter und verhindert weiteres Aufmuskeln. Viele Pferde zeigen ein muskuläres "Loch" hinter dem Schulterblatt.
Die Brustmuskulatur muss übernehmen und verspannt. Die Folge: die Pferde äußern häufig Gurtzwang, werden in der Beinstellung bodeneng oder rückständig.
Durch den absinkenden Rumpf und die Enge im Brustbereich (die verspannte Brustmuskulatur zieht Rumpf und Gliedmaße näher aneinander) wird das große Nervengeflecht Plexus Brachialis (Bild S. 7) mitunter stark eingeengt. Dieses Nervengeflecht versorgt nicht nur die Muskulatur der unteren Gliedmaße, sondern den gesamten Rumpfbereich und Schulterblattbereich. Irritationen können sich in starken Verspannungen, verminderter Spannung oder fehlender Wahrnehmung oder Überempfindlichkeit (z.B. Muskelzucken am Widerrist bei Berührung) äußern.
Aufgrund der Engstellung der Schulterblätter/Vorderbeine zum Rumpf wird unter anderem auch dem großen Nervengeflecht Plexus Brachialis der Platz genommen.
Da ein schwacher Musculus Serratus Ventralis wenig Stoßdämpfer-Funktion ausüben kann, muss der Fesseltrageapparat im unteren Bereich der Vorderbeine viel abfangen und ist anfälliger für Verletzungen.
Rittigkeitsprobleme:
Häufig zeigen die Pferde Probleme in Anlehnung und Halshaltung oder einen falschen Knick - Rumpf und Halswirbelsäule müssen sich für eine korrekte Anlehnung aufrichten - durch die durchgestreckte Halswirbelsäule kann der Kopf auf Zügeleinwirkung nur "abknicken".
Trab- und Galoppgangbild wirken bergab bzw. in den Boden, da sich das Pferd im vorderen Bereich nicht hebt. Zusätzlich geraten viele Pferde bei Verstärkungen ins Rennen, da vorn kein Raumgriff entsteht.
Aussitzen fällt schwer, da die Pferde aufgrund der ansteigenden Rückenlinie nicht gleichmäßig durch den Körper schwingen.
In Folge verspannter Brustmuskulatur und rückständigen Vorderbeinen wirkt die Vorführphase des Vorderbeins kurz, die Pferde kommen nicht "aus der Schulter".
Trainingstipps für schwache Rumpftragemuskulatur:
Vorab möchte ich sagen - im Training ist es leider nicht möglich, einen einzelnen Muskel zu trainieren. Es arbeiten immer Muskelgruppen oder ganze Ketten. Aber oft sind es auch genau diese, die gemeinschaftlich entweder zu schwach oder zu stark ausgeprägt sind. Der Rumpftragemuskel wird vorrangig während Schwungvoller Gangarten angesprochen - da es hier zu einer rythmischen Federung kommt. Nach der Gangart ist die nächste Frage, wie ich nun den Rumpftragemuskel anspreche. In hoher Kopf-Hals-Haltung kann sich der Muskel entspannen, erst, wenn Kopf- und Hals in die Tiefe sinken und den Muskel in Vorspannung kommen, muss der Muskel kontrahieren und tragen.
Wer sich jetzt auf sein Pferd setzt, mit dem Zügel runter zieht und eine Stunde lang im Trab in Dehnungshaltung reitet, hat aber sicher wenig Erfolg. Die Dehnungshaltung ist dabei ein Trainingsmittel und kein nützlicher Dauerzustand. Möchte man selbst seinen Bizeps kräftig trainieren hält man die schwere Hantel auch nicht 10 Minuten lang angebeugt hoch - das Einzige, was dabei passiert sind Verspannungen und Übersäuerung des Muskels. Wichtig ist also das ständige Wechselspiel zwischen Entspannung und Anspannung. Wer mit der Nasenhöhe variiert, z.B. durch Zügel aus der Hand kauen aus der Anlehnung oder mit kurzen Übergängen arbeitet, setzt immer wieder unterschiedliche Reize. Zusätzlich kann mit Innen- und Außenstellung oder Biegungen gespielt werden, um einen einseitgen Effekt zu erwirken. Aber das allerwichtigste zum Schluss: die Pferde müssen sich von selbst tragen lernen und vorallem an den Zügel heran dehnen. Wer sein Pferd durch Zügeleinwirkung oder Schlaufzügel in die Tiefe und hinter die Senkrechte friemelt, wird nicht an sein Ziel kommen.
Wer dann noch einen drauf setzen möchte kann sich an schwierige Übungen heranwagen: Längsbiegung und Aufdehnung des Rumpftragemuskels mit Übergängen und Tempiwechseln kombinieren. Dazu eignet sich z.B. ein in eher Dehnungshaltung gerittenes Schulterherein als Grundposition, daraus können Tempiwechsel im Trab, oder Schritt-Trab, Trab-Galopp oder Trab-Halten-Übergänge gearbeitet werden.
Auch statische Übungen sind hier sehr interessant. Auch wenn diese vielleicht unseren Rumpftragemuskel nicht direkt ansprechen (wissenschaftlich ist hier noch nichts erforscht), können sie helfen eine Tiefenstabilität der Wirbelsäule im Übergang zwischen Hals- und Brustwirbelsäule zu erzeugen. Z.B.: Übungen auf dem Balancepad - wie verschiedene Leckerlieübungen während das Pferd mit den Vorderbeinen auf dem Balancepad steht, oder verschiedene Gewichtsverlagerungsübungen auf Balancepads. Auch eine Zwei-Bein-Wippe für die Vorderbeine kann höchst interessant sein, bei dem dein Pferd zwischen beiden Vorderbeinen ausbalancieren muss.
Also zusammengefasst:
Trab- oder Galopparbeit, mit Tempiwechseln und Übergängen und Längsbiegung
Dehnungshaltung (Ziel: Nasenhöhe zwischen Buggelenk/Ellenbogengelenk) als Trainingsmittel
Aktive Hinterhand und positiver Spannungsbogen in der Oberlinie
Wechselspiel in der Nasenhöhe, Gangartenwechsel, Außen- und Innenstellung aktivieren und entspannen den Muskel
Beispiel: Zügel aus der Hand kauen mit Trab-Galopp-Übergängen auf der Acht, Schulterherein mit Schritt-Trab-Galopp-Übergängen, Kruppe-Herein mit Schritt-Trab-Galopp Übergängen
Zusätzlich: Statische Übungen, z.B. auf Balancepads oder Wippen
Habe ich Erfolg? Dokumentiert euer Training. Durch Vorher-Nacher Fotos mit Datum kann man genau feststellen, in welche Richtung das eigene Training geht. Nach 4-6 Wochen, in denen aller 48 h ein Trainingsreiz für die Muskulatur gesetzt wurde, sollten sich erste Ergebnisse zeigen. P.S. Ganz objektiv ist das Messen der Widerristhöhe bzw. das Messen der Höhe des tiefsten Punktes am Rücken. Bei erfolgreichem Training werden sich diese Punkte anheben. Denkt dabei bitte an die Kontrolle des Sattels. Hier kann es schnell zu eng werden, wenn der Rumpf nach oben kommt.
Liebe Frau Landskron,
der Artikel ist sehr interessant und anschaulich. Nun habe ich ein Pferd, welches gerade 3 Monate bei mir ist und allgemein eine sehr wenig ausgeprägte Muskulatur hat. Gerade die Rücken- und Kruppenmuskulatur ist sehr schwach und die Hüfthöcker stehen deutlich hervor bei jetzt doch schon recht gutem Futterzustand. Aber auffallend ist, dass gerade dieser Muskel extrem ausgebildet ist und eine deutliche Wölbung vorm Schulterblatt zeigt. Das Pferd hat insgesamt einen sehr guten Körperbau. Über eine Antwort ob das gut ist oder eher auf eine Kompensation hinweist würde ich mich sehr freuen.
Viele Grüße
Andrea mit Murphy
Vielen Dank für die super Erklärung. Auch ich würde mich über Bilder mit guter Bemuskelung zum besseren Verständnis sehr freuen :-)
Liebe Frau Landskron,
Ihr Artikel zur Rumpftragemuskulatur ist sehr anschaulich und verdeutlicht gut die Wichtigkeit dieses Aspekts in der Reiterei. Ich selbst habe immer wieder Schwierigkeiten diese Zusammenhänge zu sehen und zu verstehen. Ich hätte dieses Pferd auf Grund seines „natürlichen“ Exterieurs beurteilt (rückständige Vorhand, geschwungene Rückenlinie, Halsansatz, recht gute Bemuskelung (ohne Rasse und Alter zu kennen)) und gesagt, dass es halt einfach so ist, Verbesserung im Rahmen aber sicherlich immer möglich ist. Interessant finde ich ihren Ansatz, der davon ausgeht, dass das Pferd auf Grund des Trainings und der Ausbildung so aussieht und ihre Meinung, dass es deutlich anders aussehen könnte, durch entsprechendes Training. Hier fände ich es klasse, wenn sie ein von ihnen beschriebenes vorher-nachher Bild zeigen könnten.