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Lahmheiten - ein Fall für den Osteopathen?

Aktualisiert: 16. Mai 2022

Lahmheiten unserer Pferde sind allgegenwärtig. Ob Sport- oder Freizeitpferd, ein Großteil unserer Partner durchlaufen pro Jahr eine oder mehrere Lahmheits-perioden. Die Suche nach den Ursachen gestaltet sich häufig schwierig. Immer häufiger werden Therapeuten statt Tierärzten zur Rate gezogen, wenn sich eine Lahmheit für den Besitzer erkennbar macht.


Für uns Menschen ist es oftmals leichter: Sobald etwas schmerzt, können wir uns schonen, oder zum Arzt gehen und das Problem genau schildern. Für unsere Pferde ist es schwieriger - auch sie fangen schmerzende Stellen an zu schonen, allerdings oftmals so geringgradig, dass es zu Beginn kaum auffällt. Die weiterführende Trainingsbelastung zwingt unsere Pferde dann, den Körper anders zu belasten, um die Anforderung trotzdem zu erfüllen. Oft erkennen die Besitzer die Veränderungen erst, wenn die Leistung des Pferdes deutlich nachlässt oder Widersetzlichkeiten auftreten. Zu diesem Zeitpunkt dauern Schmerzgeschehen oftmals schon Wochen, Monate oder gar Jahre an.


Nicht immer ist es jedoch ein schleichender Prozess: viele Lahmheiten kommen auch von heut auf morgen mit deutlicher Intensität. Dann ist es häufig für den Pferdebesitzer klar: es besteht Handlungsbedarf. Doch wer ist nun der richtige Ansprechpartner? Lieber der Osteopath der den Körper wieder in gerade Bahnen rückt oder der Tierarzt, bei dem hunderte Euro für Röntgen, Ultraschall, Medikamente und Co anstehen? Vielleicht hat er sich ja doch nur vertreten? Vielleicht ist nur ein Wirbel blockiert?

Ganz theoretisch betrachtet ist die Antwort erst einmal eindeutig: eine deutliche und rasch auftretende Lahmheit gehört in tierärztliche Hände, statt in die eines Therapeuten.




Warum gehören akute Lahmheiten nicht in die Hand des Manualtherapeuten?


Der Manualtherapeut (Osteopathie, Physiotherapie und Chiropraktik) behandelt funktionelle Bewegungseinschränkungen. Das heißt, es werden Einschränkungen in der Beweglichkeit von Muskulatur, Fasziennetz oder Gelenken behandelt, um den reibungslosen Ablauf im Körper wieder herzustellen. Dadurch können Blutgefäße, Nervengewebe und Co wieder zur regulären Aktivität zurückfinden und der Körper findet wieder ins Gleichgewicht. Das kann lokal (ein bestimmtes Körperarreal ist gestört) oder global (das gesamte System ist gestört) passieren.


Eine deutliche Lahmheit hat oft eine Verletzung oder ernsthafte Erkrankung zu Grunde liegen. Oftmals wollen die Pferdebesitzer erstmal abwarten, vielleicht hat sich das Tier "nur vertreten". Doch wann sind wir das letzte mal so umgeknickt, dass wir drei Tage stark humpeln und es war nichts verletzt? Natürlich kann etwas beim Spielen passiert sein, natürlich kann er sich nur vertreten haben. Aber wenn die Lahmheit deutlich sichtbar ist und über mehrere Tage anhält, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass etwas ernsthaft verletzt wurde oder erkrankt ist. Leider geht eine akute Verletzung oder Erkrankung nicht immer sofort mit Schwellung oder Wärme einher, was immer noch als alleiniges Indiz für viele Pferdebesitzer gilt.


Genau diese Kombination ist auch der Grund, warum eine deutliche Lahmheit immer erst tierärztlich abzuklären ist, bevor der Manualtherapeut kontaktiert wird. Eine unabgeklärte Lahmheit kann durch manuelle Reize unwissentlich verschlimmert werden - eine leichte Sehnenzerrung kann durch manuelle Therapie ein ernsthaftes Problem werden, eine geringe Gelenkentzündung kann nach einer Mobilisation extrem verschlechtert werden. Zudem werden dem Patienten durch das Herstellen des Gleichgewichtes Schonhaltungen genommen - eine vielleicht verletzte oder erkrankte Stelle muss voll belastet werden und wird dadurch verschlimmert. Und der letzte, aber nicht unwichtigste Grund: oftmals entsteht bei den Pferdebesitzern Frustration, da die Pferde nach der Behandlung immer noch lahm gehen. Kein Wunder, das eigentliche Problem, vielleicht eine Gelenkentzündung durch einen Chip, konnte in der manuellen Therapie nicht verbessert werden und besteht nach wie vor. Auch die eben gelösten Schonhaltungen kehren nach kurzer Zeit zurück. Die Behandlung und auch das ausgegebene Geld waren umsonst und haben das Pferd unnötig belastet.


Blockaden, Verspannungen und Co, welche in die Hände eines Therapeuten gehören, zeigen sich in klinisch anderem Bild: ein schleichender Prozess, über Wochen oder gar Monate nachlassende Leistung und Rittigkeit. Diese Problematiken können durch den Therapeuten behoben werden und damit rechtzeitig ernsthaften Erkrankungen oder Verletzungen vorbeugen. Hier kannst du mehr dazu lesen, warum ein Wirbel nicht "ausgerenkt" sein kann.




Doch dann beginnt häufig die Odyssee: Was ist die Ursache der Lahmheit?


Röntgen: ein wichtiges Hilfsmittel um die Ursache zu finden

Eine gründliche Lahmheitsuntersuchung ist in den meisten Fällen unumgänglich und wird von vielen Pferdebesitzern aus Kostengründen rigoros vermieden. Was passiert überhaupt bei einer Lahmheitsdiagnostik und warum ist es so schwer, herauszufinden, was dem Pferd fehlt?


Regulärer Ablauf:

  1. Betrachtung und Abfühlen von Muskulatur und Körperbau im Stand: hier können bereits Asymmetrien in der Muskulatur, Wärme-Hot-Spots oder starke Spannungsunterschiede erfühlt werden

  2. Gangbildanalyse: Welche Gliedmaße ist betroffen? Nicht immer ist dies auf den ersten Blick eindeutig, gerade wenn es sich um geringgradige Lahmheiten handelt.

  3. Beugeproben: Verschiedene "Provokationstests" werden einzeln durchgeführt. Geht das Pferd nach einer Probe deutlicher lahm, kann die Erkrankung oder Verletzung oft schon in diesem Bereich eingegrenzt werden. Auch unter Medizinern gibt es mittlerweile Debatten, was die Aussagekraft von Beugeproben betrifft. Es stellt sich die Frage, ob es sich nicht um subjektive, normale Reaktionen des Körpers auf eine Überlastung handelt.

  4. Leitungs- und Gelenkanästhesien: Ein Anästhetikum wird in bestimmte Nervenbahnen oder Gelenke injiziert - das behandelte Areal wird nach kurzer Zeit örtlich betäubt. Liegt die Erkrankung oder Verletzung in diesem Bereich, wird ein Schmerzgeschehen verdeckt und die Lahmheit verschwindet.

  5. Bildgebende Diagnostik: Nachdem der Bereich festgestellt wurde, kann durch ein Röntgenbild, eine Ultraschallkontrolle oder weitere in der Klinik (z.B. MRT oder CT) festgestellt werden, was genau in diesem Bereich erkrankt oder verletzt ist.

Ausnahmen bestätigen die Regel: In manchen Fällen kann es für den Tierarzt sinnvoll sein, von diesem Procedere abzuweichen. Besteht z.B. der Verdacht auf eine Fissur- oder Fraktur im Knochen, wird häufig auf Gangbild oder Beugeproben verzichtet und zuerst ein Röntgenbild geschossen. Ebenfalls kann es manchmal sinnvoll sein, 1-2 Wochen unter Schmerzmitteln und Entzündungshemmern ohne Training abzuwarten ob sich die Lahmheit gibt, bevor eine umfangreiche Diagnostik durchgeführt wird.


Zum Nachdenken..

Um solche Möglichkeiten sinnvoll abzuschätzen und auch Lahmheitsdiagnostikergebniss gezielt und korrekt zu interpretieren, ohne wahllos alle Gliedmaßen durchzuröntgen und nach irgendwas zu suchen, benötigt auch der Tierarzt einen großen Erfahrungsschatz und genaue Kenntnisse in diesem Bereich. Nicht selten ist es für die Tierärzte wahnsinnig schwer, in jedem medizinischen Fachbereich eine derart umfangreiche Expertise zu entwickeln. Unsere Tierärzte müssen i.d.R. mehrere Gebiete umfangreich abdecken, von der Zahnbehandlung, Geburtshilfe oder Besamung, Kolik über Augenverletzung bis hin zur Lahmheitsdiagnostik. Im Humanbereich würde niemand mit einem stark schmerzenden Knöchel zum HNO Arzt gehen.


Taktfehler oder Lahmheit? Ab wann ist denn mein Pferd wirklich lahm?


Veränderungen in den verschiedenen Bewegungsphasen stellen per Definition eine Lahmheit dar. Lahmheiten werden je nach Schwere und Auftreten in verschiedene Lahmheitsgrade eingeteilt. Diese reichen von Geringgradig bis Hochgradid. Die irreführende Bezeichnung "Taktfehler" oder "Ticken" stellt bereits eine Lahmheit dar. Zudem erfolgt die Einteilung nach Hangbeinlahmheit (die Veränderung tritt auf, während die betroffene Gliedmaße in der Luft ist) und Stützbeinlahmheit (die Veränderung tritt auf, während die betroffene Gliedmaße am Boden ist). Häufig haben wir eine Kombination aus beiden Lahmheitsvarianten.

Die übliche Einteilung der Lahmheitsgrade für Tierärzte. Quelle: Lahmheitsuntersuchung beim Pferd, Thieme Verlag

Nicht selten sieht der Pferdebesitzer das Problem oben, im Rücken, oben im Becken, oben in der Schultergliedmaße und ist sich sicher, dass unten nichts verletzt ist, denn es ist ja nichts dick oder warm. Ein Großteil der Lahmheiten betreffen die "distale" (untere) Gliedmaße. Nur ein sehr geringer Prozentsatz aller Lahmheiten entspringen dem oberen Körperbereich oder Rücken-Hals-Komplex. Im Becken und Ilio-Sakralgelenk haben wir häufig ebenfalls Erkrankungen, wenn die untere Gliedmaße betroffen ist. Die Diagnostik in diesem Bereich gestaltet sich jedoch äußerst schwierig, da nur wenige bildgebende Möglichkeiten vorhanden sind. In vielen Fällen ist dann nicht mehr eindeutig festzustellen, wo das ursprüngliche Problem war, und was die Folge ist.


Die Lahmheit, auch von unten kommend, ist jedoch im oberen Bereich an den großen Gelenken oftmals deutlicher zu sehen, da hier die Kompensation passiert. Der Vergleich zum Humanbereich: natürlich bewegen wir unsere Hüfte anders, wenn uns der große Zeh stark schmerzt. Das Problem liegt aber nicht dort, sondern viel tiefer.


Eine lang andauernde funktionelle Einschränkung kann zu Erkrankungen und Verletzungen am Bewegungsapparat führen, umgekehrt passiert dies ebenso. Ebenfalls führen deutliche funktionelle Einschränkungen (starke Faszienverklebungen oder Verspannungen) über einen langen Zeitraum zu geringen Lahmheiten. Diese äußern sich häufig in Hangbeinlahmheiten, also Veränderungen, während ein Bein in der Luft ist.




Und wer kann mir nun bei der Lahmheit helfen?


Ist man als Pferdebesitzer oder Reiter mit schleichend schlechterem Gangbild oder einer akuten Lahmheit konfrontiert, kann es sinnvoll sein mit Tierarzt und Therapeut Rücksprache zu halten. Oft kann ein kurzes Video der Lahmheit schon enthüllen, ob das Gangbild erst tierärztlich abgeklärt werden muss.


Geringe Lahmheiten sind zudem eine Herausforderung für den Tierarzt, da es schwieriger wird, den tatsächlichen Lahmheitsbereich zu lokalisieren. Ebenfalls entfallen Leitungsanästhesien, welche darauf hinauszielen, einen Vorher-Nachher-Effekt zu erkennen. Daher kann es sinnvoll sein, geringe Lahmheiten erst einmal therapeutisch abklären zu lassen. Gibt es ein unterliegendes Problem oder eine Lahmheit, zeigt sich diese manchmal direkt nach der Behandlung deutlicher.


Generell gilt: eine plötzliche Lahmheit sollte immer zuerst tierärztlich abgeklärt und behandelt werden.



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